Unterhalb des menschenwürdigen Existenzminimums und daher verfassungswidrig: Zu diesem Ergebnis kommt Rechtswissenschaftlerin Professorin Anne Lenze. Sie hat die Anpassung der Hartz IV Regelsätze zum 1. Januar 2022 im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbands juristisch bewertet und lässt in einem zehnseitigen Kurzgutachten kein gutes Haar an der Regierung.
Inhaltsverzeichnis
2022: Höhere Hartz IV Regelsätze
Der Hintergrund: Zum kommenden Jahr steigen die Hartz IV Regelsätze um 0,76 Prozent. Ein alleinstehender Erwachsener erhält dann 449 Euro statt 446 Euro. Diese minimale Anpassung wurde angesichts der hohen Inflation von vielen Verbänden – so auch dem Paritätischen – als faktische Kürzung der Hartz IV Leistungen moniert.
Juristische Auswertung
Mit dem Gutachten der Professorin wird diese Aussage jetzt auch juristisch untermauert. Dabei bezieht sich die Rechtswissenschaftlerin Anne Lenze vornehmlich auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz IV Regelsätzen.
Regelsatz bewegt sich an unterster Grenze
So hatte das Bundesverfassungsgericht bereits am 23. Juli 2014 (Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 23. Juli 2014: 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12 und 1 BvR 1691/13) erklärt: Sobald der Gesetzgeber Kenntnis von „Unterdeckungen existenzieller Bedarfe“ habe, „müsse er darauf reagieren, um sicherzustellen, dass der aktuelle Bedarf gedeckt sei“.
Das Fazit der Richter lautete seinerzeit: Der Gesetzgeber bewege sich an der „Grenze dessen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert“ sei. Der Regelbedarf hätte schon damals spürbar angehoben werden müssen.
Inflation treibt Hartz IV Bedürftige in die Enge
Pandemie hat Hartz IV Bedürftige belastet
Passiert ist seither wenig bis gar nichts. Auch die Anpassung der Hartz IV Regelsätze zum Jahr 2022 entspreche laut Gutachten nicht den Vorgaben der Richter. Man verweise auf die Senkung der Mehrwertsteuer und damit günstigere Preise, übersehe aber, dass Hartz IV Bedürftige durch die Pandemie mit enormen Zusatzkosten belastet gewesen seien.
Mehrkosten wurden nicht aufgefangen
Diese pandemiebedingten Mehrkosten, etwa weil die Tafeln nicht mehr geöffnet hatten, das kostenlose Schul-Mittagessen entfiel und Geräte angeschafft werden mussten, seien durch die geringere Mehrwertsteuer nicht aufgefangen worden. Daran ändere auch der Corona-Bonus in Höhe von 150 Euro kaum etwas.
47% der Tafel Haushalte sind Hartz IV Bedürftige
Unrealistische Berechnung
Vorgeworfen wird der Regierung vor allem, dass sie aufgrund der Mehrwertsteuersenkung die Regelbedarfe mit einer Preisänderungsrate angepasst habe, „die schon zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens offensichtlich unrealistisch“ war. Bereits im Juli 2021 habe die Inflation 3,8 Prozent betragen.
Preissteigerungen werden erst 2023 im Hartz IV Regelsatz berücksichtigt
Erhebliche Kaufkraftminderung
Inzwischen liegt die Inflation bei über vier Prozent, erwartet werden für das kommende Jahr fünf Prozent. Heißt laut Gutachten: „Die geringfügige Erhöhung der Regelbedarfe zum 1.1.2022 wird daher absehbar zu einer erheblichen Kaufkraftminderung der Grundsicherungsempfänger*innen führen.“
Regierung muss zeitnah reagieren
Auch zum Thema Inflation hatte das Bundesverfassungsgericht bereits vor über zehn Jahren eine Aussage getroffen (Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar 2010: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09). In der Grundsatzentscheidung steht: „Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchssteuern zeitnah zu reagieren.“ Nur so werde der aktuelle Bedarf sichergestellt.
Menschenwürdiges Existenzminimum
Professorin Anne Lenze fordert daher, die absehbare Kaufkraftminderung abzuwenden, „um ein weiteres Absinken der Regelbedarfe unter die Schwelle des menschenwürdigen Existenzminimums abzuwenden“.
Kürzungen bei den Ärmsten stoppen
Der Paritätische Gesamtverband appelliert angesichts des Gutachtens, die versteckten Kürzungen bei den Ärmsten zu stoppen. Der Hartz IV Regelsatz müsse auf mindestens 600 Euro steigen. Anderenfalls leiste man der gesellschaftlichen Spaltung Vorschub.
Das Gutachten: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/Schwerpunkte/Armut_abschaffen/doc/Kurzgutachten_Lenze_09.2021.pdf
Bildnachweis: Christin Klose / shutterstock.com