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Würden 725 Euro Bürgergeld reichen?

Euro Geldscheine mit Münzen und Taschenrechner

53 Euro mehr für einen Single: Die Anpassung von Hartz IV zum Bürgergeld hat bereits für Empörung gesorgt. Niemand wollte mehr arbeiten und stattdessen direkt zum Amt laufen. Hat sich dann doch keiner getraut. Nimmt man nun 725 Euro plus die Übernahme der Stromkosten in tatsächlicher Höhe, die der Paritätische Wohlfahrtsverband als fair berechnetes Bürgergeld vorschlägt, werden die Buhrufe noch lauter. Trotzdem stellt sich angesichts der hohen Inflation die Frage: Reicht das?

Faire Berechnungsgrundlage

Dass bei Hartz IV und heute beim Bürgergeld anders gerechnet werden müsste, um einen lebensnahen Regelsatz zu erhalten und echte Teilhabe zu ermöglichen, darauf machen Wohlfahrtsverbände schon seit Jahren aufmerksam. Der Paritätische Gesamtverband fordert allerdings nicht nur, er rechnet auch vor.

So rechnet der Paritätische

Die Unterschiede zur Methode der Bundesregierung mögen zwar nur marginal sein, machen sich in Euro und Cent aber deutlich bemerkbar. Einerseits setzt der Paritätische auf eine statistisch besser geeignete Referenzgruppe. Andererseits wird darauf verzichtet, Verbrauchsausgaben als nicht regelbedarfsrelevant aus der Kalkulation zu streichen.

Die gesetzlichen Vorgaben

Ansonsten hält man sich an die Vorgaben des Gesetzgebers. Der sieht eine Mischkalkulation aus Inflation und Lohnentwicklung vor. Diese Basisfortschreibung wurde mit dem Bürgergeld um eine erweiterte Fortschreibung ergänzt, mit der die aktuelle Teuerung besser berücksichtigt werden soll. Das hat mit Blick auf Lebensmittel- und Strompreise schon jetzt nur bedingt funktioniert.

Bürgergeld und die Forderung des Paritätischen

Die Unterschiede bei der Berechnung der Regierung und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gehen aus der Tabelle hervor (Quelle):

RegelbedarfBürgergeld 2023Paritätischer
Nahrungsmittel, alkoholfreie Getränke174,25 Euro181,60 Euro
Alkoholische Getränke, Tabak0,00 Euro24,91 Euro
Bekleidung, Schuhe41,61 Euro47,01 Euro
Wohnen, Energie, Instandhaltung42,57 Euro2,17 Euro
Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände30,59 Euro34,56 Euro
Gesundheitspflege19,17 Euro34,89 Euro
Verkehr45,04 Euro102,66 Euro
Nachrichtenübermittlung44,90 Euro47,57 Euro
Freizeit, Unterhaltung, Kultur49,00 Euro100,09 Euro
Bildungswesen1,81 Euro8,13 Euro
Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen13,12 Euro59,27 Euro
Andre Waren und Dienste40,01 Euro49,92 Euro
Mitgliedsbeiträge0,00 Euro6,07 Euro
Geldspenden0,00 Euro1,95 Euro
Gerichtskosten0,00 Euro0,58 Euro
Versicherungen (private Haftpflicht, Kfz, Hausrat)0,00 Euro23,96 Euro
GESAMT502,07 Euro725,34 Euro
Gesamt ohne Strom (40,74 Euro)461,33 Euro725,34 Euro

Bürgergeld mit diesen Tricks kleingerechnet – 725 Euro plus Strom anstatt 502 Euro 

Um nur einige Punkte herauszupicken, in denen sich die beiden Berechnungen unterscheiden:

  • Bildung: Statt lächerlicher 1,81 Euro hält der Paritätische 8,13 Euro für angemessen. Damit kommt man zwar auch nicht weit, hat aber viereinhalb Mal mehr Spielraum für Bücher und Co.
  • Gaststättendienstleistungen: 13,12 Euro, um mal außer Haus zu essen oder zu nächtigen. Da lässt sich an fünf Fingern abzählen, wie weit man kommt. Hier geht die Regierung davon aus, dass man die Ausgaben durch häusliches Essen ersetzen könne. Mit 59,27 Euro wäre zumindest etwas soziokulturelle Teilhabe möglich, statt nur in den eigenen vier Wänden zu hocken.
  • Mitgliedsbeiträge: Auch die Tatsache, dass Mitgliedsbeiträge berücksichtigt werden sollen, trägt dazu bei, Bürgergeld Bedürftigen mehr Möglichkeiten zur Teilhabe zu bieten. Denn für Erwachsene gibt es, anders als bei Kindern und Jugendlichen, keine Leistungen aus dem Bildungspaket (BuT)..
  • Versicherungen: Statt sie ganz auszublenden, obwohl sie teils verpflichtend oder von Verbraucherschützern als absolut notwendig empfohlen werden, sollen im Bürgergeld Regelsatz hierfür knapp 24 Euro vorgesehen sein. Derzeit werden Versicherungen nur als Freibetrag beim Einkommen berücksichtigt.
  • Freizeit: Auch hier ist die Tendenz hin zu mehr Teilhabe unverkennbar. Diese Facette des Alltags wird beim Bürgergeld bislang eher stiefmütterlich behandelt und in vielen Bereichen ganz übersehen.
  • Gesundheitspflege: Dass auch hier mehr Geld nötig ist – weil viele Bürgergeld Bedürftige hohe Zuzahlungen zu Medikamenten sowie Pflege- und Hilfsmitteln leisten müssen – beweisen die vielen Hinweise auf Twitter zum Hashtag #IchBinArmutsbetroffen. Auch der Trend, kostenlose Hygieneartikel für Frauen zu verteilen oder in öffentlichen Gebäuden vorzuhalten, unterstreicht die Tatsache, dass der Regelsatz hierfür zu knapp bemessen ist.

Thema Stromkosten

Deutlich geschrumpft sind in der Übersicht des Paritätischen die Energiekosten. Grund: Strom soll nicht länger im Regelsatz enthalten sein, sondern mit den Wohnkosten in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Dieser Wunsch steht schon sehr lange im Raum und hat durch die stetig steigenden Energiekosten an Brisanz gewonnen.

Würde man den Strom aus dem aktuellen Regelsatz herausrechnen, blieben von 502 Euro für einen Single noch knapp 461 Euro zum Leben und zur Teilhabe. Das ist sehr knapp und angesichts der hohen Preise nicht wirklich realistisch. Die Differenz zu den 725 Euro des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: 264 Euro!

51 Euro Unterdeckung monatlich beim Strom lässt Bürgergeld Empfänger verzweifeln

Aktuelle Entwicklung

Die Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes stammen aus dem vierten Quartal des Jahres 2022. Seither ist viel passiert. Das gilt insbesondere, wenn man die aktuelle Inflation und andere Entwicklungen wie die Einführung des Deutschlandtickets berücksichtigt. Dadurch müssten einige der Werte gekürzt und andere deutlich nach oben korrigiert werden:

  • Dank Deutschlandticket würden jetzt – rein theoretisch und vorausgesetzt, der öffentliche Nahverkehr ist gut ausgebaut – 49 Euro im Monat reichen. Die Forderung des Paritätischen in Höhe von 102,99 Euro wäre dann zu hoch. Macht minus 53,99 Euro.
  • Bei Lebensmitteln sieht der Verband zum Zeitpunkt der Berechnungen nur 7,35 Euro mehr vor als die Regierung. Ausgehend von 20 Prozent Teuerung in den vergangenen Monaten (bei Grundnahrungsmitteln bis 70 Prozent, etwa bei Zucker), müssten dort aber längst 36,32 Euro mehr stehen. Blickt man indes auf die durchschnittlichen Mehrausgaben im Vergleich zum Budget, sind es sogar mindestens 100 Euro (Studie von Zeit online).

806 Euro – Bürgergeld müsste deutlich höher sein

725 Euro lautet die Forderung, die voriges Jahr an die Regierung gerichtet wurde. In einigen Bereichen wurde gehandelt. Zieht man 54 Euro im Bereich Verkehr ab, blieben 671 Euro. Damit wäre der Wunsch des Paritätischen überzogen.

Aber: Die Lebensmittelpreise grätschen derzeit allen Haushalten in die Parade. Fast niemand kommt mehr mit dem üblichen Budget aus. Dieses Problem wird durch die Studie von „Zeit online“ unter Berücksichtigung von 800.000 Kassenzetteln eindrucksvoll belegt. Die Datenlage, in die alle Haushalte einfließen, geht von durchschnittlich 100 Euro aus, die fehlen. Bei Bürgergeld Bedürftigen liegt der Betrag vermutlich weitaus höher.

100 Euro mehr für Lebensmittel – mit Bürgergeld unmöglich

Ließe man auch diesen Wert in die Berechnung für einen fairen Regelsatz einfließen, kämen zu 671 Euro, die nach Korrektur der Verkehrsausgaben bleiben, 100 Euro hinzu. Macht 771 Euro und damit fast 50 Euro mehr, als der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert. Würde man jetzt auch in den anderen Bereichen die Daten anhand der Inflationswerte angleichen, ergibt sich folgendes Bild:

Ursprünglicher Betrag725 Euro
Korrektur durch Deutschlandticket– 54 Euro
Korrektur durch höhere Lebensmittelkosten+ 100 Euro
Korrektur durch Inflation (bezogen auf die Gesamtforderung, abzüglich Verkehr und Lebensmittel = 441,08 Euro) mit durchschnittlich 8,0 Prozent+ ca. 35 Euro
Neuer Betrag806 Euro

Nach aktuellem Stand müsste die Forderung des Paritätischen demnach nicht mehr 725 Euro, sondern 806 Euro Regelsatz betragen. Selbst wenn man den Aspekt „alkoholische Getränke und Tabak“ (ca. 25 Euro) ausgrenzt, der ohnehin nur Vorurteile schürt, kommt man auf rund 781 Euro. Differenz zur ursprünglichen Forderung: 56 Euro.

So viel fehlt beim Bürgergeld

Fair berechnet, müsste das Bürgergeld Stand heute 806 Euro beziehungsweise 781 Euro ohne Alkohol und Tabak betragen. Ausgezahlt werden jedoch nur 502 Euro, ohne Strom 461 Euro. Daraus ergibt sich ein gewaltiger Unterschied: 345 beziehungsweise 320 Euro.

Dabei hat der Paritätische im Rahmen der Berechnungen weder Luxus noch Sinnloses hinzugefügt. Es geht schlicht um Fairness und Teilhabe – von beidem ist man aktuell noch sehr weit entfernt. Dass es sich daran etwas ändert, ist eher ungewiss.

Zahlen für 2024

Denn für 2024 gibt es bereits eine grobe Schätzung, die aus dem 14. Existenzminimumbericht der Bundesregierung hervorgeht. Wir haben am 05. Januar 2023 bereits dazu berichtet unter Existenzminimumbericht: So hoch wird das Bürgergeld 2024 – Darin heißt es:

„Auf Basis der diesjährigen Herbstprojektion 2022 der Bundesregierung und vor dem Hintergrund der bestehenden Unsicherheiten bezüglich der künftigen Preisentwicklung wird zum 1. Januar 2024 mit einem Anstieg der Regelbedarfsstufen von etwa 6 bis 8 Prozent gerechnet.“

Für einen Single hieße das: Statt 502 Euro gäbe es bei durchschnittlich sieben Prozent mehr 537 Euro – und damit nach wie vor deutlich weniger als eigentlich nötig wäre.

Politisches Echo

Bemühungen, etwas daran zu ändern, gibt es nicht. Auf politischer Ebene haben das Problem bislang nur „Die Linke“ und die Grüne Jugend erkannt. Während „Die Linke“ der Forderung des Paritätischen Gesamtverbandes folgt, hatte die Grüne Jugend im Rahmen der Bürgergeldplanungen 200 Euro mehr gefordert. Etwas mehr als 50 Euro sind es geworden. Dass dieser Betrag längst nicht mehr reicht, um die Teuerung aufzufangen, sollte jedem klar sein.

Bild: TaniaKitura/ shutterstock.com