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Warum glauben alle, Bürgergeld-Betroffene bevormunden zu müssen?

Mann maßregelt mit erhobenem Zeigefinger eine Frau

Wasser predigen und Wein trinken: Kommentare und Tweets nach diesem Schema finden sich zum Thema Bürgergeld inzwischen zuhauf. Jeder meint, Betroffene dahingehend belehren zu müssen, wie man mit dem Regelsatz über die Runden kommt – ohne jemals selbst in der Lage gewesen zu sein, Hilfe beim Amt beantragen und sich dafür blank machen zu müssen. Diese Bevormundung lässt tief blicken.

Menschenwürdiges Existenzminimum

Das Bürgergeld soll gemäß Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten. Nun hat jeder eine eigene Vorstellung davon, was darunter zu verstehen ist. Das wird sehr deutlich, wenn man die Reaktionen auf die 53 Euro mehr Bürgergeld für einen Single (vorher 449 Euro, jetzt 502 Euro Regelsatz) betrachtet. Noch heute fühlen sich Gegner der Sozialreform bemüßigt, mit fadenscheinigen Rechnungen zu behaupten, Arbeit lohne sich nicht mehr und das Bürgergeld belohne Faulheit.

Lehrstunden in Sachen Sparsamkeit

Entsprechend harsch wird darauf reagiert, wenn Armutsbetroffene ihre Not publik machen. Denn mit elf Prozent mehr ist es schließlich undenkbar, dass die Bürgergeld-Regelsätze nicht für eine gesunde Ernährung reichen oder man Sorgen vor einer Stromsperre hat. Deshalb wird nicht nur nach unten getreten, sondern auch gleich eine Lehrstunde in Sparsamkeit geboten.

Bürgergeld mit diesen Tricks kleingerechnet – 725 Euro plus Strom anstatt 502 Euro 

Suppe für Arme

Eine „Businessfrau“ etwa, die sich bei Twitter mit dem Hashtag #Luxus versehen hat, führt den Gegenbeweis dazu an, dass man sich mit den Bürgergeldsätzen nicht ausgewogen ernähren kann. Dazu verlinkt sie ein Rezept aus der „Zeit“: die chinesische Eierblumensuppe als schnelle Wohlfühlsuppe.

Die Zutaten, unter anderem Frühlingszwiebeln, Tomaten, Eier und Sesamöl, seien günstig und kaum jemand dagegen allergisch. Dass die Suppe nicht satt macht, wie viele anmerken, ist offenbar nur nebensächlich. Man könne mit Kartoffeln und Toast eine vollwertige Hauptspeise daraus kredenzen. Sie selbst gebe bis zu 7.000 Euro fürs Essen aus und werde meistens satt.

Abgepacktes Brot vom Discounter

Oder: Der Hinweis, dass Brot beim Bäcker inzwischen fünf Euro kostet, verleitet zur Aussage, man könne auch abgepacktes Brot beim Discounter kaufen. Ist der Blumenkohl zu teuer, reichten auch günstigere Gemüse oder tiefgefrorene Ware. Die Liste mit Tipps wird jeden Tag länger und fing irgendwann mit dem berühmten Waschlappen und dem sättigenden Haferschleim an.

Sparsam aus der Not heraus

Viele tun so, als würden Bürgergeld-Empfänger ihr Geld gnadenlos verprassen und seien einfach nur zu blöd, ordentlich zu haushalten. Doch genau das Gegenteil der Fall ist. Die meisten sind im Laufe der Jahre gezwungenermaßen zu Sparfüchsen geworden und können gut und gerne auf sinnfreie Tipps verzichten.

Die Nerven liegen blank

Wären die Ratschläge ernst gemeint, hätten sie nicht diesen gewissen Unterton. Der deutet weniger auf Hilfsbereitschaft, sondern lässt eher vermuten, dass man Bürgergeld-Empfängern nicht einmal das Schwarze unter den Nägeln gönnt. Man spürt, dass die Nerven blank liegen – auch und gerade wegen der steten Teuerung.

Eine Frage des Spielraums

Denn die Inflation betrifft jeden. Es ist allerdings eine Frage des Spielraums, bis man mit dem Rücken an der Wand steht. Wenn selbst die Vorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, erklärt, das Bürgergeld reiche nicht zum Leben, ist das ein Eingeständnis politischer Fehler. Und wenn jemand trotz harter Arbeit finanziell am Limit ist, mit Lohn oder Rente, sind dafür nicht Bürgergeld-Empfänger verantwortlich.

Nach unten treten statt Solidarität

Um wie viel sinnvoller wäre es da, gemeinsam für faire Löhne, höhere Renten und ein ehrlich berechnetes Bürgergeld zu kämpfen? Doch stattdessen wird von oben nach unten gehackt und Bürgergeld-Empfängern jeden Tag aufs Neue unterstellt, einfach nur faul und beratungsresistent zu sein.

Bild: Andrei Korzhyts/ shutterstock.com